AUSSENDIENSTGEDANKEN: „Tote an den Straßen“

Es ist ja weitläufig bekannt, dass Außendienstmitarbeiter und Vertreter die besten Jobs haben; sich in Cafés und Restaurants bestens auskennen und immer eine gepackte Badetasche im Kofferraum mit sich führen. Es liegt mir fern, an diesem Vorurteil oder an dieser Erkenntnis oder an dieser Wahrheit irgendetwas ändern zu wollen. Am besten ist, wir belassen die Beurteiler in dieser Meinung und befeuern dieses Gerücht kontinuierlich weiter, bis wir es selbst glauben… Schließlich hat diese Berufsspezifikation auch etwas romantisches, etwas verlässliches…

Bestens vorbereitet auf die heutige Kundentour, führt mich meine heutige Reise erst einmal an der Baustelle vor der eigenen Haustüre vorbei. Leider gibt es in dem Dorf, in dem ich wohne, bis zur ersten Anhöhe keinen Funkempfang. Nachdem ich die Umleitungen passiert habe, im Dorf wird gerade der Kanal erneuert, bin ich auf der Anhöhe in Ochsenfeld angekommen und werde sofort mit Mails und entgangenen Anrufen auf meinem Handy bombardiert. Es ist wohl besser, ich bleibe stehen, um zu sortieren und das Entgangene in wichtig und unwichtig zu klassifizieren…

Der Weg nach Neuburg führt über Adelschlag, der Verwaltungsgemeinde in unserem Bezirk. Zwischen Adelschlag und Möckenlohe komme ich an der Stelle vorbei, an der im letzten Jahr ein zwölfjähriges Mädchen auf grausamste Art und Weise ermordet wurde. Meine Tochter ist elf… Schon mehrmals hielt ich an der provisorischen Gedenkstelle an. Ein Feldkreuz und eine schlichte Bank erinnern an den Wahnsinn, der sich vor Jahresfrist an diesem Platz abgespielt haben muss. Auch heute halte ich an, um für das unschuldige Kind und seine Familie zu beten. Immer wieder werden auf der Bank Blumen abgelegt – die Trauer um dieses Mädchen kennt keine Grenzen und das Entsetzen über diesen Tag des Horrors ist immer noch spürbar.

Die Fahrt geht weiter über Nassenfels. Es ist beinahe dreißig Jahre her, dass ich mich mit meinem Opel Corsa B um einen Laternenpfahl wickelte, kleine Schrammen davontrug, und meinen Führerschein wegen 1,36 Promille verlor. Nicht mehr weit bis nach Neuburg, wo schon der erste Kunde auf mich wartet – ein großes Fass Öl und die Ersatzteile für ein Premiumklasse-Auto – hat sich rentiert. Ich fahre die Umgehung über die Kraftwerksbrücke bei Bergheim durch die Donauauen. Seit Jahrzehnten wird dieses Naturareal um die Donaustadt geschützt, gehegt und gepflegt. Sogar ein Donauauen-Zentrum im Grünauer Schloss ist entstanden. Doch hat sich vor kurzem die Audi mit einem Testgelände direkt an das Naturschutzgebiet angesiedelt. Die Donauauen liegen jetzt in direkter Nachbarschaft mit einer Auto-Renn- und Test-Strecke und einem Militärflughafen – insgesamt über 1000 Arbeitsplätze, aha! Paradoxer könnte eine Nachbarschaft wohl nicht sein, denke ich bei mir und fahre Richtung nächste Kundschaft.

Zwischen zwei Werkstattbesuchen telefoniere ich noch mit einem Kunden und verkaufe Kältemittel für Klimaanlagen und Verbrauchsmaterial, derweil ich Neuburg hinter mich lasse und Richtung Pöttmes weiterfahre. Immer wieder fallen mir die Wegkreuze der Verkehrstoten auf, die zumeist die trauernden Eltern für ihre verunglückten Kinder aufstellten. Manchmal ist es ein Verunglückter, manchmal sind es zwei… Wenn ich einen sensiblen Tag habe, bekreuzige ich mich an jeder Unfallstelle und hoffe, dass mir dieses Schicksal als Vater erspart bleibt, einem meiner Kinder ins Grab schauen zu müssen.

Auf Höhe Ehekirchen, der Verkaufstag läuft heute recht gut, komme ich an der Stelle vorbei, an der meine Schwester vor knapp zwanzig Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Die Versicherung versuchte noch zu argumentieren sie wäre nicht angeschnallt gewesen, um sich vor der Versicherungssumme zu drücken, was ihr aber nicht gelang. Der Unfallverursacher, Fahrer einer Expressspedition, bekam 6 Monate Fahrverbot… Meine ganze Familie hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt. Vielleicht bin ich auch deshalb häufig melancholisch und traurig, sehe ich die vielen Toten an den Straßen.

Zeitlich nähere ich mich der Mittagspause und werde heute wohl asiatisch essen. Es ist das Privileg jeden Außendienstmitarbeiters, sich täglich neu für die Gestaltung seiner kulinarischen Befriedigung zu entscheiden. Zur Wahl stehen einige Metzgereien mit Mittagstisch oder das Verweilen an einem seiner Lieblingsplätze mit einer mitgenommenen Brotzeit, oder ein opulentes Mittagsmahl bei einem Griechen, Italiener oder eben einem Asiaten. Anbieter gibt es in der Außendienstregion immer genug und das Spiel beginnt jeden Tag wieder von vorne – ganz nach Tagesform.

Als ich zwischen Pöttmes und Schrobenhausen das Waldstück nahe Sandizell passiere, komme ich an der MDBA vorbei, einem Tochterunternehmen der EADS. Vor kurzem hat diese Firma den Zuschlag für die Entwicklung und die teilweise Umsetzung des Raketenabwehrsystems Meads erhalten – natürlich milliardenschwer. In der gesamten Region fürchten nun die Autowerkstätten, dass die MDBA durch die lukrativen Stellenangebote das Mechanikerpersonal abzieht. Von der einen Seite wirbt die Audi ab, und von der anderen Seite kommt jetzt Meads… Das ist der Preis des Erfolgs; das ist der Preis des Wohlstands… – Donauauen, die nichts wert sind und kein Personal für die Bewältigung der Mobilität und des Services an den Bürgern selbst… Vielleicht kommen da die ganzen Flüchtlinge ganz recht, die unser Land täglich erreichen. Schließlich hat ja die Rüstungsindustrie sie im erweiterten Sinne auch hergetrieben… So schließt sich ein Kreis. Wir bauen und exportieren Waffen – Wir machen ein Leben und Überleben in den belieferten Ländern unmöglich – und wir bekommen dann als Flüchtlinge die Arbeitskräfte, die wir benötigen, um wieder neue Waffen zu produzieren… – welch‘ ein Wahnsinn!

Während ich über den Wahnsinn unserer Welt sinniere, kreuzen wieder zwei Gedenkkreuze mit Totentafeln meine Fahrt. Vor einem Kreuz am Waldrand führt sogar ein Weg zu dem Gedenkstein… Ich halte an und steige aus. Still ist es hier. Es ist ein schöner, ruhiger Ort. Aus der Ferne höre ich ein Donnern und ein Zischen und binnen ein paar Sekunden donnern zwei Eurofighter über meinen Kopf und über die Gedenktafel mit dem Kreuz hinweg.

Ja, Außendienst ist ein schöner Beruf mit vielen Facetten. Es lohnt sich, Geschäfte zu machen, auf seinem Weg Kontakte zu knüpfen und wieder neue Geschäfte anzubahnen. Natürlich habe ich auch meine gepackte Badetasche im Kofferraum und halte bereits Ausschau nach dem nächsten Café…

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