Nichts deutete daraufhin, dass irgendetwas anders wäre an diesem Tag. In dem Supermarkt, in dem Gerhard heute zum Einkaufen ging, um ein paar Lebensmittel für zu Hause einzukaufen, schien alles zu sein wie sonst üblich. Nur mit ihm selbst stimmte etwas nicht. Gerhard war sehr nachdenklich, ja beinahe verbittert. Das Leben spielte ihm in den letzten beiden Jahren böse mit und er war nur noch ein Schatten früherer Tage. Bis vor zwei Jahren strotzte er nur so vor Selbstvertrauen und er war jederzeit in der Lage, seinem Leben neue Impulse geben zu können. Alles in seinem bürgerlichen Leben schien darauf hin zu deuten, dass dies auch so bleiben würde. Er war glücklich verheiratet, stolzer Vater von zwei Kindern im Alter von 11 und 14 Jahren und er hatte einen guten Job in der Verwaltung einer regionalen Brauerei. Sein Einkommen war mittelprächtig, aber durch den Zuverdienst seiner Frau, die im örtlichen Krankenhaus eine Halbtagsstelle als Krankenschwester hatte, reichte das gemeinsame Einkommen bestens aus. Die kleine Familie nannte ein schmuckes Haus mit Grundstück ihr Eigen und es standen zwei Autos vor der Tür. Sie hatten sich für ihren Jahresurlaub und für Kurztrips sogar ein Wohnmobil zugelegt, in dem alle vier Personen locker Platz hatten.
Gerhard hatte seine vier Einkaufsartikel beisammen und machte sich auf den Weg zur Kasse. Es war Mittagszeit, draußen war Hochsommer und es hatte weit über 30 Grad. Der Supermarkt war an diesem Tag gut gefüllt. Die Menschen wollten wegen der hohen Temperaturen noch einige kühle Getränke und Grillprodukte für den Abend einkaufen. Leider war der Supermarkt wegen der Mittagspause personell total unterbesetzt und es bildete sich eine lange Schlange vor der Kasse. Insgesamt 17 Kunden warteten darauf, endlich an die Reihe zu kommen.
Gerhard lag an letzter Position. Kurz bevor er in den Supermarkt ging, hatte er einen Termin bei seiner Hausbank. Sein persönlicher Berater und ehemaliger Schulfreund Wolfgang teilte ihm mit, dass er die Ratenzahlungen für das Haus nicht weiter stunden könne und dass, wenn Gerhard nicht binnen der nächsten zwei Monate eine Lösung präsentierte, die Zwangsvollstreckung für sein Haus anstand. Da half ihm alles bitten und betteln, da halfen alle Erklärungen nichts. Die Familie war seit der schweren Nierenerkrankung seiner Frau finanziell in Schieflage geraten und die Hypothekenraten drückten gewaltig. Gerhards Frau Erika war seit mehr als zwei Jahren Dialysepatientin und konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben. Nicht nur der Verdienstausfall drückte auf die Schuldenlast, nein, das Krankengeld stellte seitens des Gesundheitswesens eine Lohnersatzleistung dar, die laut Gesetzgebung steuerfrei war. Das erhöhte wiederum die steuerliche Progression und so musste die Familie trotz der schweren Krankheit der Mutter eine Steuernachzahlung leisten, statt eine Steuererstattung zu bekommen. Ja, krank sein, dachte sich Gerhard, ja, krank sein wird hierzulande auch noch bestraft…
Gerhard war an Position 14 angekommen und es war schon 12.30 Uhr. Um 13 Uhr musste er seine Frau von der Dialyse abholen. Dann sollte er noch schnell etwas kochen, bevor die Kinder von der Schule kommen. Seinem 11jährigen Sohn und seiner Tochter müsste er dann noch erklären, dass er sie vom Gitarrenunterricht abgemeldet hatte, weil sich die Familie das in der derzeitigen angespannten finanziellen Situation nicht mehr leisten könnte. Sicherlich gäbe es eine Lösung, das Geld für den Kurs eventuell später zu zahlen, falls es irgendwann wieder aufwärts gehen würde. Jedoch sah es danach nicht aus, denn Gerhard bekam von seinem Arbeitgeber am Morgen eine Abmahnung mit der Begründung, dass er in seiner Position nicht ständig fehlen könne… Aufgrund der Erkrankung seiner Frau hatte er in den letzten beiden Jahren jeweils das volle Kontingent der Krankheitstage genommen, die einem bei einer schweren Erkrankung innerhalb der Familie zustanden… Das blieb natürlich nicht ohne Folgen und so setzte seit einem halben Jahr schweres Mobbing in der Firma ein. Schließlich verdiente Gerhard aufgrund seiner 20jährigen Firmenzugehörigkeit bei weitem mehr als dies bei einem jüngeren Kollegen der Fall wäre. Für die Geschäftsleitung war Gerhard auf dem Abstellgleis und für die Zukunft und für die Betriebswirtschaft nicht mehr tragfähig – schlichtweg unrentabel. Wie entledigt man sich nun so einem Problemfall, wie es Gerhard geworden ist? Am besten mit Mobbing und einem gewissen Sterben auf Raten. Ein schlechtes Gewissen hatten die einstigen Freunde und Kollegen in der Firma gegenüber Gerhard niemand mehr. Schließlich ging sein Verhalten ja auf Kosten von ihnen selbst, die ihn ständig ersetzen mussten. Die Geschäftsleitung verstand es geschickt, den einstigen Garanten für Zuverlässigkeit und Erfolg in die Position des Verlierers zu drängen.
Mittlerweile befand sich Gerhard an Position 11 und die Kassiererin hatte es nun mit einer Textilrückgabe zu tun. Das erworbene Teil, eine Stretchhose, war zu klein und hatte an der Naht einen Fehler. Die Verkäuferin meinte, dass die Nahtstelle durch das mehrmalige Probieren der Hose aufgegangen war, was in ihren Augen keinen Reklamationsgrund darstellte. Die Kundin meinte jedoch in gebrochenem Deutsch-Russisch, dass das eindeutig ein Qualitätsmangel wäre. Und so wogte die Diskussion über die Stretchhose hin und her und es war mittlerweile schon 12.44 Uhr. Gerhard dachte über seinen Jugendfreund bei der Bank nach. Wie konnte es sein, dass dieser ihn in dieser erniedrigenden Art und Weise auflaufen ließ. Plötzlich verspürte der gepeinigte Familienvater einen stechenden Schmerz in seinem Kopf. Wie ein unüberwindbarer Druck begann ein schwarzer Schatten, sich in seinem Kopf auszudehnen. Gedanken von Ungerechtigkeit, Ausweglosigkeit und Rache stiegen in ihm auf und er fand in der Warteschlange schier keinen Ausweg aus seiner Situation. Gerhard hatte schon seit mehreren Wochen Panikattacken, hatte aber bisher niemanden davon erzählt. Schließlich musste er das Schiff, das Familie heißt, als Einziger durch die Wogen des Sturms lenken. Er musste immer gesund bleiben – Krankheit war für ihn nicht drin. Er musste immer funktionieren.
Die Schlange vor der Kasse war geschrumpft und Gerhard befand sich an Nummer 7. Doch die Schmerzen in seinem Kopf, das Vakuum der Gesamtsituation und die unerklärliche Einsamkeit in seinem Selbst nahmen Fahrt auf und er war nicht mehr in der Lage, diesen Prozess zu steuern. Während eine kräftig beleibte Mutter in ihrer Handtasche nach den Rabattmarken zu der Geschirraktion suchte, ging schnell ein Herr mit Krawatte an ihr vorbei und machte der Dame deutlich, dass er nur Zigaretten bräuchte. Sie winkte ihn vorbei und die Kassiererin löste im Anschluss die Rabattmarken ein. Nun ging alles relativ schnell. Eine Rentnerin kramte noch nach Kleingeld in ihrem Geldbeutel, bis sie nach mehreren Versuchen der Kassiererin ihre Damenbörse anvertraute, dass die sich um die Begleichung des fälligen Betrages kümmern könnte.
Gerhard platzte an Nummer 3 jetzt beinahe der Kopf und sein schwindendes Bewusstsein schlug Alarm. Er konnte seine wirren Gedanken nicht mehr ordnen. Gedankenfetzen strömten wild und strukturlos durch sein Gehirn. Die Krankheit seiner Frau, Medikamentenzuzahlungen, Steuerbenachteiligungen, Freundesverrat, überschäumende Wut, seine unschuldigen Kinder, die Versteigerung seines Hauses, seine Lebensleistung in der Arbeit, das Mobbing der Geschäftsleitung und seiner Kollegen; schier alle Problemfelder seines Lebens schwirrten gleichzeitig durch Gerhards Kopf hindurch und lösten einen kompletten Blackout aus. Der Mann, der einst vor Verlässlichkeit, Lebenslust und Lebensfreude erblühte, verwandelte sich von einem Moment zum anderen in ein gefährliches Monster. Im Augenblick der totalen Verzweiflung tippte ihn ein Geschäftsmann mit Krawatte von hinten an, der zufällig drei Position hinter ihm stand. „Mein lieber Mann, geht es ihnen nicht gut? Ich beobachte sie schon eine Weile. Sie sind ja ganz durcheinander.“ versuchte der ihn zu beruhigen…
Gerhard zückte ein großes Fleischmesser, dass er von zuhause mitgenommen hatte. Es war ein Geschenk seines Jugendfreundes Wolfgang, besagter Wolfgang aus der Bank. Scheinbar wie in Trance hatte er es sich schon daheim in seine Aktentasche eingesteckt, bevor er sich auf den Weg zur Bank gemacht hatte. Er stach ohne Vorwarnung ein dutzend Mal auf den Geschäftsmann ein. Im Supermarkt brach unvermittelt Panik aus. Wildes Geschrei und ein wildes Durcheinander war die Folge. Die Menschen brüllten, schrien und kreischten, stieben auseinander und Gerhard suchte unvermittelt den Weg ins Freie. Es war kurz vor 13 Uhr und von Weitem sah er Wolfgang, wie der nach seiner Mittagspause wieder in das Bankgebäude, das auf der anderen Straßenseite seinen Sitz hatte, zurückgehen wollte. Gerhard rannte mit dem Messer auf Wolfgang zu. Ehe der sich versah, stach sein Jugendfreund viele viele Male auf ihn ein… Er stach solange auf Wolfgang ein bis er selbst über ihm zusammenbrach, in sich zusammen sackte und jämmerlich zu weinen begann…
Der Geschäftsmann aus dem Supermarkt überlebte schwerverletzt. Wolfgang, Gerhards ehemaliger Freund, erlag noch am Tatort seinen Verletzungen. Gerhard wurde mit der Diagnose „schwere Psychose“ in die Psychiatrie eingewiesen. Im Polizeibericht war später zu lesen, dass das Motiv der Tat noch unklar wäre…
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