DER SCHNEEWALD

Wandel ich durch den dämmrigen Wald, der schneebedeckt anmutet wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, überkommen mich Visionen von Zauberern und Hexen, von Untoten und Dämonen, von Feen und Wichteln. Unter dem Schnee, wo sonst Laub, Moos und Totholz, verhüllen sich die Geister in reinstem Weiß, lassen mich im Tagtraum erahnen, all‘ die Geschichten, all‘ die Legenden, Märchen und Sagen, die meinen Geist schon seit frühester Kindheit in heller Aufregung und Verzückung sah.

Krallenhände greifen nach mir und unzählige Augenpaare verfolgen meinen Weg zwischen den schlafenden Bäumen. Ziellos fasziniert von den Bildern des Augenblickes waten die Beine durch die monotone Jungfräulichkeit der einstigen Vielfalt des Sommers. Jetzt, da die Natur ruht und ausruht, bin ich hellwach in großartiger Kindlichkeit. Ich verschmelze mit meinem Weg und freue mich auf jeden Baum, jede neue Situation. Die Eichen durchscheinen mit ihren weit ausladenden Armen die Baumgruppen. Jeder dieser Baumriesen protzt mit seiner Einzigartigkeit, mit der dunklen Farbe des Astwerkes und mit seiner königlichen Dominanz.

In den Mosaiken aus Geschichten von einst, die mir in den abstrakten Bildern dieser Landschaft überall begegnen, sind Sorgen und Nöte des ausgeführten Lebens so klein wie Mauslöcher im Schnee. Der Rausch der Sinne, das Klopfen und Hämmern der Spechte, die Spuren im Schnee, die sich ständig verändernde Choreographie aus Fels, Eis, Schnee, kleinen Gräben, Bachlauf und Rinnsale, .. die Zeit scheint vergessen und die Symbiose zwischen Mensch und Schöpfung für einen Moment des Glücks zur Vollkommenheit erschaffen.

Es betritt der Mond die Szenerie. Mit seinem fahlen weißen Licht enttarnt er jede kleine Nebelwolke, gestaltet silbrig-matten Glanz auf den hängenden Armen der Fichten und Tannen. Seine strahlende Präsenz verleiht der Nacht einen nicht gekannten Glanz und verwandelt den Wald in eine neue Märchenwelt. Die Krallenhände lassen von mir ab, die Augenpaare verschwinden im Dunkel und die Untoten unter dem Schnee verwandeln sich in altes Holz und jungen Büschen. Die Untoten entpuppen sich als abgebrochene Äste und Buschwerk. Doch in meiner Phantasie sind alle Bücher und Bilder der Kindheit so nah wie schon seit vielen Jahren nicht mehr…

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