Angesichts der vielen Gesichter, die Henry in der Stoßzeit einer Großstadt an den Augenpaaren vorbeiglitten, ohne dass er tiefere Notiz davon nehmen würde, erschien ihm sein eigener Tag nicht im Mindesten so verrückt zu sein wie der jedes Einzelnen, der hier seine Wege kreuzte. Unzählige Scharen von Menschen warteten mehr oder weniger genervt auf die heranbrausenden Untergrundkolosse, deren Mäuler seitlich liegen und beim Eintreffen einen Teil der Meute mittels eines unsichtbaren Sogs verschlangen. Fliegende Lettern auf rotierenden Rollen flatterten in an der Decke angebrachten Glaskästen zu einem Begriff zusammen und verrieten in Verbindung mit der Uhrzeit auch sein nahendes Ende der Anreise. Sein Begleiter Edwin, ein Kunstmaler aus München, kannte sich bestens aus und trieb ihn in den Rachen des Ungetüms, dass sie durch die Gedärme eines riesigen Ungeheuers namens München vom Magen bis ins Herz transportieren sollte. Widerwillig aber neugierig wagte der junge Philosoph den Sprung ins Abenteuer, war er doch schon auf der Hinfahrt aufgrund des überraschend zunehmenden Verkehrs von Zweifeln geplagt, ob sich je ein Mensch in diesem Chaos zurechtfinden könnte, geschweige denn er selbst. Die U-Bahn war die Rettung und mit zunehmender Fahrtdauer war er wieder zur Kommunikation fähig. Sein Freund Edwin, den er besuchte, bereitete gerade eine Kunstausstellung vor. Natürlich war Edwin deshalb sehr aufgeregt und recht euphorisch und hatte viel zu erzählen. Henry selbst, ein junger Schriftsteller mit englischen Wurzeln, wollte auf der Ausstellung eine Lesung zu seinem neuen Lyrikband halten. Um die Attraktivität der Veranstaltung zu steigern, verfasste er zudem einige Texte zu Edwins ausgestellten Bildern – so eine Art Kunst und Lyrik als Show-Projekt. Wer konnte schon ahnen, dass sich der junge Mann in einem unüberschaubaren Wust zwischen Dekadenz, Alkoholkonsum und Koks-Geschnupfe der Münchner Schickeria und des Glockenbachviertels befinden würde. Letzteres war das einschlägige Stadtviertel für viele Homosexuelle in München und somit die zweite Heimat von Edwin. Der Umstand, dass Edwin homosexuell war, störte Henry überhaupt nicht. Er war froh, dass er sein neues Buch auf einer Ausstellung bewerben konnte und freute sich auf gute Resonanz und hoffentlich ein paar verkaufte Exemplare. Bevor Henry den ersten Brocken des kontinuierlich andauernden Monologs des Malers einigermaßen folgen konnte, hielt die U-Bahn an der ersten Umsteigestation. Die Kunst bestand nun darin, aufzustehen, dem Münchner Künstler weiter zuzuhören und darauf zu achten, nicht den Anschluss zu verpassen. Für Edwin war es ganz normal, dass um die Bahnsteige herum Bettler und Dealer die gefliesten Bahnsteige säumten. Mitten durch Familien und Berufstätigen hindurch polterte eine wilde Meute von angetrunkenen, gröhlenden Fußballfans. Weiter mit von der surrealen Partie waren dutzende Handy-Hektiker und ein paar Liebespaare und Unzählige, die es vielleicht einmal waren, aber jetzt an jeder Hand ein Kind durch den Wust der Neuzeit führten oder zu führen versuchten. Das Bild komplettierten viele Gestalten, die in dunklen Ecken standen oder an den Untergrundsäulen lehnten und denen man schier alles hätte zutrauen können. Noch lange verfolgten Henry die vielen unschuldigen Kinderaugen, die nach Zeit, Zuwendung und Liebe fragten, jedoch damit warten mussten, bis die Eltern diese Orte des Wahnsinns und des Lärms verlassen konnten, um dann überirdisch den nächsten Wahnsinn zu bestehen, bis sie dann letztendlich irgendwann in einem kuscheligen Bett, in einem noch kuscheligerem Zimmer, vor einer Spielekonsole oder einem PC sitzen und die Spiele-CDs in die dafür vorgesehenen Schubfächer einlegen, damit sie in ihren ganz eigenen Wahnsinn eintauchen können, dessen Vielfalt scheinbar unendlich zu sein scheint…
Und schon verschwanden der Schreiber und der Maler in den nächsten Wagen Richtung Ausstellung. Edwin wählte sein Atelier als Ausstellungsort und verschickte im Vorfeld bereits Hunderte von Einladungen. Die große Unbekannte bei der Vernissage war, dass niemand wusste, wie erfolgreich der Fernsehauftritt bei TV München verlaufen war. Eine Woche zuvor konnte Edwin einen Interviewtermin erhaschen und etliche Exponate der Ausstellung wurden dort bereits vorgestellt. Zudem kündigte sich der zuständige Redakteur mit einem Besuch inklusive Fototeam an. Als die Henry und Edwin gegen Mittag am Atelier ankamen, herrschte schon helle Aufregung, obwohl die Ausstellungsvernissage erst am Abend stattfinden sollte. Edwin lebte seit fünf Jahren mit einem Vietnamesen zusammen. Nguyen war einst seine große Liebe. Der häufige Beziehungswechsel ist in dem Glockenbach-Milieu relativ normal. Was nicht üblich war, ist die Tatsache, dass Nguyen und Edwin weiter zusammen wohnen blieben. Dieser Umstand ist der Wohnungssituation der bayerischen Hauptstadt geschuldet. Beide hatten sich aufeinander eingestellt und unterstützten sich in den Fragen der Lebensbewältigung nach besten Kräften. Die Talente Nguyens waren in erster Linie kulinarischer Natur. Edwin selbst war ganz der Malerei verschrieben und er bestritt seinen Lebensunterhalt rein durch den Verkauf seiner Exponate. Zudem betrieb er Straßenmalerei auf der Luitpoldstraße. Hier malte und zeichnete er Passanten-Portraits oder verkaufte Seerosen-Bilder… Dieses Tagesgeschäft lief mehr schlecht als recht und Edwin schickte sich in regelmäßigen zeitlichen Abständen an, eines Tages über eine Ausstellung seiner Bilder den großen Durchbruch zu erreichen. Die diesjährige Veranstaltung umfasste Werke, die nach einem Urlaub in der Wüste entstanden. Edwin wollte Beduinen, Landschaft, verhüllte Frauen und Kamele in einem stilvollen Wechsel mit unterschiedlichen Mal-Techniken unter Zugabe von Wüstensand und getrockneten Wüstenpflanzen umsetzen, was ihm auch bestens gelang. Die gesamte Ausstellung hatte einen etwas konservativen Charakter, war aber nach der Aussage Edwins so gewollt. Schließlich hatte er in der Vergangenheit mit Objekten wie das „Lewinsky-Kleid“ harsche Kritik erfahren müssen. Das „Lewinsky-Kleid“ war ein ganz besonderes Kunstobjekt und entstand während einer seiner letzten Liebesabenteuer. Edwin kaufte ein Kleid, dass dem von Monica Lewinsky sehr ähnlich war. Edwin und sein damaliger Liebespartner „benetzten“ das Kleid mit ihren Körperflüssigkeiten und hielten das für eine tolle Idee. Das war sie vielleicht auch, jedoch schreckte es mehr Leute ab, als dass es selbige begeisterte. Der Preis von 5000 Euro war da dann doch eher Nebensache und so erhielt das Exponat einen ganz besonderen Platz im Atelier… – und erinnerte Edwin ein ums andere Mal an vergangene Liebesbeziehungen…
Die ersten Gäste und Helfer waren schon gekommen und vertrieben sich die Zeit in der Küche oder gestalteten den Gartenbereich mit Lichterketten und Biergarnituren. Das eine oder andere Gespräch blieb nicht aus und so wurde Henry mehrfach die Frage gestellt, seit wann er denn mit Edwin zusammen wäre, was dieser immer beharrlich verneinte. „Ach, auch dich wird die Muse noch wachküssen…“ oder „Der Kleine ist noch Jungfrau. Es wird Zeit, dass ihn jemand von dieser Last befreit…“ sind nur ein paar Auszüge aus dem reichhaltigen Repertoire von anzüglichen Bemerkungen, die Henry erdulden musste. Nachdem sich die beiden Projektanten über Bühne, Ablauf, Eröffnungsrede, Laudatio und weiteren Details ausgetauscht hatten, begann urplötzlich ein großes Hupkonzert vor dem Atelier. Die Fete nahm zweifellos Fahrt auf, denn zwei rosa Cadillac Cabrios aus den 60iger Jahren standen auf der Straße, dahinter ein Convoi aus mindestens zehn weiteren Cabrios. In den Caddys saßen eine Delegation von TV-München, am Steuer natürlich der Moderator der Late-Night-Show, Richie!
„Auf geht’s Jungs! Es geht los!“ brüllte Richie ins Haus. Sofort eilte Edwin nach Draußen. Nach einem kurzen, aber eindringlichen Gespräch, überzeugte er auch Henry, dass es jetzt zu einer Promo-Tour durch München geht. Die erste Flasche Schampus geköpft und los ging es Richtung Luitpoldstraße. Richie wusste genau, wie man so etwas in München aufzieht. Schon beim Interview vor einer Woche hat er beschlossen, diese Vernissage zur Chefsache zu machen und der Szene gehörig einzuheizen. Alle zwei Tage zeigte er einen kleinen Trailer zur Veranstaltung und ließ ganz im Verborgenen und ohne das Wissen von Edwin, Flyer drucken, die er nun bei der Promo-Tour durch München zum Einsatz brachte. Ja, München ist ein kurzentschlossenes Pflaster, und manchmal ist je kurzfristiger desto besser! Richie hielt bei nahezu jeder Galerie, ließ nonstop Rock-a-Billy-Sound auf Vollgas laufen. Die rosa Caddys besorgten den Rest. Kurzzeitig war Henry an die einschlägigen Münchner TV-Serien erinnert, die nur allzu treffend die Szene in Bayerns Hauptstadt charakterisierten. Doch war das hier kein Fernsehen, sondern blanke Realität. Was nun folgte kann in klarer chronologischer Form wohl kaum wiedergeben werden. Nach knapp zweieinhalb Stunden war die Promo-Tour vorbei. Es war circa 6 Uhr abends und im Prinzip war das Atelier schon voll. Henry hatte für den Abend einen Gitarristen aus der Provinz angeworben. Er gab Hendrix, Scofield, Mike Sturned und Eric Clapton zum Besten, was die Gäste absolut begeisterte. Als Laudatorin fungierte eine Museumsleiterin aus einer Münchner Vorstadt, die ihren Job bestens erledigte. Die Vernissage, oder besser gesagt Party, nahm ihren Lauf und anfangs konnte sich Henry noch an ein vages Konzept halten. Dieses jedoch verwässerte durch den kontinuierlichen Genuss von Champagner und diversen Drinks immer mehr. Als Henry nach einem nicht enden wollenden Gespräch mit der Laudatorin sich in die Küche flüchtete, um wenigstens noch ein paar Canapés zu ergattern, erwischte er einen der Gäste, einen Darsteller aus einer zweitklassigen Fernsehsoap im Ersten, beim Koks-Schnupfen. Kurze Zeit später war er endgültig auf der Party angekommen. Von nun an referierte der junge Schriftsteller über seine lyrischen Arbeiten zu den Bildern, hielt in den verschiedenen Ecken des Hauses kurze Lesungen und mimte den selbstsicheren Bühnenprofi bis nahe an der Perfektion. Die Zeit verstrich wie im Flug und irgendwann lief Henry auch Edwin wieder über den Weg. Dieser war unglücklich mit sich, mit der Veranstaltung, mit seiner jüngsten Vergangenheit und das Schlimmste: Ihn plagten die Selbstzweifel eines homosexuellen Künstlers. Dazu kam die Angst vor dem materiellen Untergang. Wird die Ausstellung nach all‘ den Mühen und Investitionen ein Flop und würde er selbst ab Morgen unter einer Brücke schlafen müssen und so weiter und so fort?
Ja, München und die Szene… Gegen 6 Uhr morgens verflüchtigten sich die meisten Gäste und auch Luiz, der Gitarrist aus der Provinz, stimmte mit „Morning Has broken“ seinen letzten Song an. Als Henry gegen 12 Uhr Mittag das Licht der Welt wieder erblickte, fand er nur noch Chaos vor. Edwin war nicht zugegen und niemand konnte Henry sagen, wo er hin ist oder wo er sich aufhielt. Nguyen und ein paar Helfer räumten auf. Auf das Nachfragen Henrys antwortete Edwins Mitbewohner, dass sein Verschwinden nichts Ungewöhnliches sei und dass er selbst ganz beruhigt nach Hause fahren könnte – seine Hilfe wäre nicht notwendig und… seine Lesungen waren sehr hilf- und erfolgreich. Edwin würde sich sehr bald bei ihm melden.
Es dauerte und es dauerte. Es dauerte geschlagene zwei Monate, bis Henry wieder von Edwin hörte. Der hatte sich gleich nach der Vernissage abgesetzt und bei einem Freund übernachtet. Edwin verkaufte zehn seiner über dreißig Bilder und erzielte einen Verkaufserlös von über 20.000 Euro. Schon eine Woche nach der Vernissage buchte er einen Flug nach Thailand. Als er von seinem sechswöchigen Aufenthalt wieder zurück war besuchte er Henry und gab ihm für seine Hilfe und Unterstützung und für sein nächstes Buch eine „künstlerische Förderung“ und ein Gemälde, das er nur für ihn gemalt hatte. Für Henry wird dieser verrückte Tag in München unvergesslich bleiben; für Edwin hingegen war der Tag der Vernissage nur eine weitere Etappe auf seinem künstlerischen und menschlichen Werdegang… – Es war eben „One Day in Munich!“
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