Als wäre die Zeit der Romantik zurückgekehrt, sitzt du im Warmen hinter dem Fenster und beobachtest, wie die Welt um uns herum im Schnee versinkt. So rein und weiß, als ob sich ein Schleier des Schweigens und der ewigen Ruhe über die Landschaft ausbreitet. Die Natur scheint ihre Muskeln spielen zu lassen und verwandelt unseren persönlichen, privaten Kram, in absolute Unwichtigkeit und Stillstand. Bei Zuwiderhandlungen drohen Krankheit, Psychose und Erfrierung. Das Tuch der Unschuld hüllt das Entsetzen über die jüngste menschliche Kultur in einen Mantel der Gleichgültigkeit. Betrachtet man unsere Heimat von oben, so erkennt man, wie sich Städte, Gemeinden und Dörfer mit ihren Häusern und Gewerbegebieten, mit ihren Straßen und Autos, aus der weißen Pracht herausheben wie Eitergeschwüre, die versuchen, die Reinheit der Natur zu beschmutzen und zu zerstören…
Die Zeit ist reif für eine Spurensuche und der nahe Wald liefert die Antworten, liefert die Zeichen des Lebens, für kurze Zeit in den Schnee markiert. Zwei Feldhasen bahnten sich am Waldrand einen Pfad durch die weiße Pracht. Der Buntspecht hämmert durch den Mischwald und zeigt an, dass er gewillt ist, im frühen Frühjahr seine Bruthöhle in einem der vielen Hundertjährigen, seiner Auserwählten anzubieten. Der Eichelhäher, der Wächter des Waldes, hat mich bereits erkannt und alarmiert die Umgebung aufs Gerate wohl. Doch sind die Spuren der Waldbewohner nicht zu übersehen. Die Wühlmaus hat des nächtens ihre unterirdische Welt verlassen und bahnte sich einen Weg durch den Schnee, um den Menschenweg zu überqueren. Die leichte Auflage hinterließ keine Pfotenabdrücke, sondern lediglich eine einer Wurst ähnelnden Linie von einem Schneeloch zum nächsten… Die Welt der Maus unter dem Schnee bleibt mir verborgen – nur der Fuchs könnte das Geheimnis lüften und lauscht allmorgendlich über der geschlossenen Schneedecke dem Treiben seiner begehrten Beute. Mit einem hohen Sprung schwingt er sich über den Boden und sticht mit der Schnauze durch die leicht gefrorene Eisdecke, um dann mit seinem Maul den begehrten Happen zu erwischen. Nur jeder zehnte Versuch ist von Erfolg gekrönt – die Natur ist unerbittlich.
Es ist die Zeit des Innehaltens. Die Natur spart an allen Ecken und Enden. Der Pulsschlag vieler Tiere wird jede Nacht aufs Minimum heruntergefahren, um der Kälte zu widerstehen. Manche Arten halten Winterschlaf und entziehen sich so dem Zugriff der harten Witterung. Entscheidend für diese Variante ist die Vorbereitung durch die verstärkte Nahrungsaufnahme und das Anlegen eines Wintervorrats vor dem Kälteeinbruch und die richtige Wahl der Winterbehausung. So vieles lebt uns die Natur vor und es ist noch keine lange Zeit her, da unterwarfen wir uns mit unserem Tun dem Zyklus der Schöpfung. Heute kämpfen wir gegen den Winter an, wollen ihn handzahm machen und kontrollieren. Statt in der Zeit der Stille und der Metamorphose der Natur, den Zyklus zu begreifen und an ihm zu wachsen, steigern wir genau in dieser Zeit noch unsere Gier und machen genau das Gegenteil von dem, was unser Organismus und unsere Seele eigentlich von uns will. Dieses immer wiederkehrende Paradoxum entfernt uns kontinuierlich von unserer eigenen Mitte und reduziert unsere Sinne und Empfindungen nur auf die Mitteilungen von unseresgleichen. Die Natur bleibt ausgespart und wird für viele von uns zum Fremdkörper und zu einer Art Bedrohung. Mit dieser Initiation gehen wir unserem täglichen Treiben nach und sehen den Sinn des Lebens in einer Art Humanentfremdung. Der Taktstock wird von allem Materiellen geschwungen und der einstige Kraftspender, der Urgrund unseres Seins, die Natur, gerät in den Hintergrund.
Die Reaktivierung unserer Wurzeln, die Demut unseres Handelns gegenüber den Geschöpfen unserer Welt, könnte uns retten, könnte ein Anker in unserem Leben sein. Die Bereitschaft zur Umkehr liegt in unserem Inneren verborgen und wartet auf die Erweckung durch uns und unser Selbst. Leider sind die Wege zu unserem inneren Kind verborgen und die göttlichen Krieger in uns von dem Gesellschaftskonzept der Gegenwart nicht gewollt und totgeschwiegen. Doch kann keine von Menschen gemachte Pädagogik jemals das Prinzip der Natur ersetzen. Denn dieses Prinzip beruht auf Ganzheitlichkeit und erfordert ein klares Maß an Entschlossenheit und Orientierung. Ein Wachstum, wie wir es aus unserer materiellen Welt kennen und seit Jahrzehnten eingebläut bekommen haben, gibt es in der Welt der Natur in dieser Form nicht. Das Wachstum des „Befreiten“ liegt im Empfinden dieser Welt, liegt in der Sekunde das Glücks. Etwa, wenn der Fuchs mit der Schnauze durch die Eisdecke stößt und eine Maus erwischt – und du durftest dieses Ereignis miterleben. Wie viel weniger ist es, im Modegeschäft ein tolles Kleidungsstück gefunden zu haben, dass von den Ärmsten dieser Welt gefertigt wurde und an dessen Etikett noch das Blut der vielen Mütter klebt, die unter lebensunwürdigen Verhältnissen arbeiten müssen.
Begebt Euch auf Spurensuche. Folgt den Spuren der Tiere im Schnee, folgt den Spuren Eures Lebens durch die Welt. Erkennt die vielen menschlichen Irrwege und erkennt Euch selbst. Jetzt im Winter, jetzt im tiefen Schnee, ist das Leben so klar wie einst… – bis zu dem Tag, an dem sich der Frevel wieder durch die weiße Unschuld bohrt und durch seinen gegenwärtigen Alltag das Jetzt verseucht!
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